Eine Geschichte vom Drang, die Welt kennenzulernen
In der gewaltigen lichtdurchfluteten Aula des Nino-Hochbaus kommt man sich klein vor. Zu groß und imposant sind die meterhohen Etagen des ehemaligen Spinnereigebäudes, wo früher die Spinnereisäle und Spinnmaschinen standen. Doch das ist längst Vergangenheit. Heute präsentiert sich der Nino-Hochbau von einer modernen Seite: Büros, Seminar- und Besprechungsräume, ein Museum, ein Kongresssaal und ein Gastronomiebereich prägen das heutige Bild. Verantwortlich für diese Wandlung des größten Gebäudes der Stadt Nordhorn ist Heinrich Lindschulte. Er hat 2010 zusammen mit Jan Lucas Veddeler dem Gebäude als Projektinitiator eine neue Verwendung gegeben. Nicht das einzige, was Lindschulte für Nordhorn und die Region getan hat — eine Geschichte vom Drang, die Welt kennenzulernen.
Grundlage: Lehre als Betonbauer
Geboren im Januar 1949 in Nordhorn begann Heinrich Lindschulte im Alter von 17 Jahren eine Lehre als Betonbauer. Anschließend zog es ihn 1968 für ein Studium des Konstruktiven Ingenieurbaus an die Fachhochschule nach Holzminden. Nach abgeschlossenem Studium umging Lindschulte den anstehenden Wehrdienst, indem er sich für das Gemeinwohl einsetzte: Als Bauingenieur schloss er sich 1971 dem Deutschen Entwicklungsdienst (DED) an (seit 2011 Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ)) und betreute Projekte in Kamerun und Äthiopien. Seine Aufgabe dort war die Überwachung von öffentlichen Bauprojekten, beispielsweise bei Schulen oder Krankenstationen. Anlässlich einer Zeugnisausgabe für seine Mitarbeiter kam es zu einem Small-Talk mit keinem geringeren als Heile Selassie, dem Kaiser von Abessinien.
Nach der dreijährigen Auslandserfahrung ging es dann zurück an die Universität. „Ich wollte auch das theoretische Wissen von der Pike an lernen. Ich wollte nicht auf fachliche Grenzen stoßen und dem theoretischen Wissen nicht hinterherlaufen“, sagt Lindschulte rückblickend. Unterstützt wurde er dabei von seiner Frau, die selbst Lehrerin war und so ihrem Mann ein weiteres Studium ermöglichte. Bis 1978 studierte Lindschulte an der Ruhr-Universität Bochum Konstruktiven Ingenieurbau. Nach erfolgreichem Abschluss als Diplom-Ingenieur zog es den damals 29-Jährigen zurück in die Heimat. „Ich wollte in der Grafschaft bleiben, aber es gab dort nur drei bis vier kleine Büros, überwiegend für Statik im Hochbau. Aber ich wollte überregional tätig sein, Länder und Kulturen kennenlernen. In den regionalen Statikbüros war das schwierig.“ Als Angestellter des Ingenieurbüros List konnte er sich dem Brückenbau widmen. „Gleichwertige Büros gab es zwischen Oldenburg und Osnabrück nicht – was bis heute so geblieben ist. Zudem gab es in dieser Region sehr etablierte Bauunternehmen und ich sah dort viel Potenzial für Wachstum. Unser Vorteil: Beim Brückenbau haben die Planer den Hut auf und der Markt war für uns offen.“ Zudem gab es in dieser Zeit auch privat erfreuliche Nachrichten: Mit den Zwillingen Nick und Jan wuchs die Familie Lindschulte 1978 von zwei auf vier Mitglieder an. 1986 kam dann noch Tochter Katharina zur Welt.
Selbstständigkeit war nicht selbstverständlich
Eine Selbstständigkeit kam für Lindschulte zu der Zeit noch nicht in Frage. „Das wäre unklug gewesen, wenn man noch keine Praxiserfahrung hat.“ Zwei Jahre später hatte er vorerst genug bei List gesehen, die teilweise eintönige und mühselige (Rechen)arbeit machte ihm keinen Spaß mehr. Zudem steckte die IT, für die er sich bis heute sehr interessiert, „noch in den Kinderschuhen“. So nutzte Lindschulte zu Beginn seiner Karriere noch den klassischen Rechenschieber, hat aber die atemberaubende Entwicklung der Computertechnologie hautnah von den ersten Anfängen an miterlebt. Von den ersten Insellösungen wie Zuse-Rechnern, Mael-Lochkartengeräten und HP-Bandlaufmaschinen im Büro List über Sirius und Olivetti-Rechner mit verschiedensten, nicht kompatiblen Betriebssystemen bis hin zu den sich schnell entwickelnden DOS-Geräten mit aufwärtskompatiblen Betriebssystemen, den Vorläufern der dann folgenden Windows-Systeme.
Sein weiterer Berufsweg verschlug ihn dann nach Haren. „Ich hatte ein Angebot von Hölscher Wasserbau. Die waren damals schon international tätig, kein Provinzunternehmen und ich hatte das Faible für das Ausland. Ich kannte Heinrich Hölscher schon damals und war ihm sehr verbunden. Obwohl das Unternehmen damals schon 70 Mitarbeiter hatte, bin ich als erster Ingenieur dort angefangen.“ In den zwei Jahren bei Hölscher Wasserbau hat Lindschulte unter anderem ein Programm zur Grundwasserabsenkung programmiert, welches noch lange Zeit auch nach seinem Austritt bei Hölscher Wasserbau auf dem Markt unter dem Namen „Progeo“ angeboten wurde. Beruflich sollte es seinerzeit für die junge Familie Lindschulte ins Ausland gehen: „Meine Kinder waren damals so drei bis vier Jahre alt und wir hatten eigentlich den Plan nach Ägypten zu gehen, um eine Niederlassung von Hölscher Wasserbau dort aufzubauen, aber dazu ist es nicht gekommen. Ich habe die Projekte in Ägypten dann aber noch von Nordhorn aus betreut.“
Tiefgreifender Entschluss nach reiflicher Überlegung
Mit reichlich nationaler und internationaler Erfahrung fasste Lindschulte 1983 einen tiefgreifenden Entschluss: „Nach der Zeit bei Hölscher Wasserbau wollte ich neue Herausforderungen und spannende Projekte. Und ich wusste: Ich will selbständig sein!“ Da zeitgleich ein passendes Angebot vom Ingenieurbüro List eintraf – Alleininhaber Heinz W. List wollte mittelfristig aufhören und in Spanien sein Domizil aufschlagen – wagte Lindschulte den Schritt und wurde Teilhaber des neuen Ingenieurbüros List und Lindschulte. „Es war eine gute Zeit mit interessanten Projekten in sehr harmonischer Partnerschaft.“ Kernthema für Lindschulte war dabei weiterhin der Brückenbau, den er noch weiter voranbrachte. Weiterhin arbeiteten nur drei Mitarbeiter im Büro: Karl-Heinz Muckert, Hermann Schomaker und Bärbel Berkemeier. Diese Mitarbeiter kannte Lindschulte schon aus seiner ersten Zeit bei List gut. „Muckert und Schomaker zeichneten damals an Zeichenbrettern und waren zu Beginn nicht begeistert auf Computer umzusteigen. Wir haben ihnen Rechner danebengestellt, die sie ignorierten. Dann haben wir einfach die Zeichenbretter in den Keller gebracht, so dass sie die Computer nutzen mussten“, erinnert sich Lindschulte schmunzelnd.
Das Büro wuchs weiter, 1986 waren es schon rund ein Dutzend Mitarbeiter. Auch räumlich wurde es eng, sodass im Büro gegenüber der Kreisverwaltung ein Stockwerk nach dem anderen von List und Lindschulte übernommen wurde. Die oberen Mieter mussten sogar rausgekauft werden, um das Platzproblem zu lösen.
Alleininhaber seit 1986
Nach dem Abschied von Heinz W. List aus dem Unternehmen verantwortete Lindschulte ab 1986 als Alleininhaber das Büro. In dieser Zeit spezialisierte sich das Ingenieurbüro immer weiter und wurde zu einem der größten Büros für Brückenbau in Nordwestdeutschland. Mit Ulrich Brinkmann, der seit 1985 im Büro angestellt war, und Thomas Garritsen, der 1986 dazu stieß, konnte man sich auch auf dem Gebiet der Statik und des Straßenbaus profilieren.
1992 bot Lindschulte den beiden langjährigen Mitarbeiter Brinkmann und Garritsen die Partnerschaft an. Das Büro wurde entsprechend umfirmiert in “Lindschulte + Partner”. Die Umwandlung in eine GmbH führte dann 1999 zur endgültigen Bezeichnung „Lindschulte Ingenieurgesellschaft mbH“.
Zu seinem Erfolgsrezept zählt Lindschulte vor allem die breite Aufstellung des Unternehmens. Es wurde sich nicht nur auf einen Bereich konzentriert, sondern immer neue Märkte gesucht, gefunden und ausgebaut. Nach dem Brückenbau kam der Straßenbau dazu, weil die Kunden und die Projekte eng miteinander verbunden waren. Auch im Hinblick auf die Technologie setzt das Büro bis heute auf die neuste Innovation. Falls diese aber nicht den Ansprüchen genügten, wurden aktiv neue Technologien mitentwickelt und programmiert. Die regionale Erweiterung gehörte ebenfalls zu den Grundkonzepten des Unternehmens. Mit Niederlassungen beispielsweise in Düsseldorf, Erfurt, Hannover, Münster, Polen und Rostock, konnten die Auslastungen ausgeglichen und die Spitzen abgedeckt werden. Das Know-how kam damals überwiegend aus dem Mutterunternehmen aus Nordhorn.
Zu den wohl wichtigsten Projekten gehört der Betriebshof der Bentheimer Eisenbahn Mitte der 90er Jahre. Die Nordhorner haben hier die gesamte Generalplanung übernommen. Das erste Projekt im Industriebau war für das Büro ein Türöffner: „Das wurde perfekt abgewickelt. Referenzen sind alles. Danach konnten wir die Provinz verlassen, weil es Generalplanungen in dieser Form bisher bei uns noch nicht gab.“ Anschließend ging es steil bergauf: Der Wesertunnel und der Lehrter Bahnhof gehören ebenso zum Portfolio wie ein großer Teil der Brücken an der Ostseeautobahn A 20 in Mecklenburg Vorpommern sowie zahlreiche Brücken an der BAB A 31 im Zuge des regional initiierten Lückenschlusses. Die Wildbrücke über die B 96 in innovativer Holzkonstruktion wurde mit dem Ingenieurpreis des Landes MV ausgezeichnet und erhielt den Traffic-Award durch das Bundesverkehrsministerium.
Alle Bereiche des Büros entwickelten sich sehr positiv, nicht zuletzt aufgrund der weiteren Partner, Reiner Koopmann und Marc-Christian Vrielink, die 1996 und 2005 nach langjähriger erfolgreicher Mitarbeit als weitere Geschäftsführende Gesellschafter aufgenommen wurden. Das enorme Wachstum von vier Mitarbeitern im Jahre 1983 auf 250 Mitarbeiter im Jahr 2011 hat rückblickend betrachtet auch Krisen und schwierige Momente mit sich gebracht. „Zeitlicher Dauerstress, ständige Überforderung von Mitarbeitern und das Herantasten an immer neue und schwierigere Aufgaben haben sicher auch Spuren hinterlassen. Ich bin meinen Mitarbeitern, und einigen von ihnen wirklich ganz besonders, dankbar, dass sie sich auch in schwierigen Zeiten immer wieder mitreißen und motivieren ließen, so dass wir letzten Endes alle Krisen überstehen konnten. Auch meinen Partnern danke ich für ihr Engagement, ohne das diese Entwicklung nicht möglich gewesen wäre“, berichtet der ehemalige Geschäftsführer stolz.
Rückzug nach 30 Jahren
Nach rund 30 Jahren in unternehmerischer Tätigkeit als Gesellschafter und Geschäftsführer der Ingenieurgesellschaft zog sich Lindschulte 2011 im Alter von 62 Jahren aus dem operativen Geschäft zurück. Seine Aufgaben übernahm das Quartett um Ulrich Brinkmann, Thomas Garritsen, Reiner Koopmann und Marc-Christian Vrielink. Heinrich Lindschulte kann sich seitdem vorrangig privaten Dingen widmen, wie seiner Leidenschaft für Motorräder oder historische Häuser – was sich gut mit seiner dritten Begeisterung für das Reisen verbinden lässt. Auch die mittlerweile fünf Enkelkinder genießen die Aufmerksamkeit des Großvaters.